Eine kurze Einführung in die Kernprinzipien des Chinesischen Boxen - von Olaf Pachten
Chinese Boxing (oder auch das „Chinesische Boxen“) bezeichnet keinen einzelnen Kampfstil, sondern bezieht sich auf eine spezielle Kategorie von traditionellen chinesischen Kampfkünsten, deren Schwerpunkt in den energetischen Aspekten des Zweikampfes liegen. In diese Kategorie fallen jene Kampfkünste, die sich mit der Pflege und der Wahrung der im Körper innewohnenden Energie (Qi) beschäftigen. Diese Stile werden auch als „innere“ Kampfkunst-Stile, oder „internal martial arts“ bezeichnet und grenzen sich von den „äußeren“, oder auch „external martial arts“ genannten Stilen ab.
Die Geschichte der chinesischen Kampfkünste ist, so vermutet man, bis zu 3000 Jahre alt. Es gibt in etwa 50 bis 60 Hauptströmungen und bis zu 400 ernstzunehmende Stile mit spezifischen Namen und einer kohärenten Philosophie. Über die Jahrhunderte haben sich die chinesischen Kampfkünste über große Teile Asiens ausgebreitet und man geht davon aus, dass sie grundlegende Inspiration und Quelle für die Entwicklung der Kampfkünste anderer Nationen wie z.B. Japan, Korea, Okinawa, Burma und Thailand gewesen sind.
Letztendlich kann man die Fülle der unterschiedlichen Kampfkünste auf drei Basisrichtungen reduzieren: innere, äußere und gemischte Stile.
Merkmale von äußeren Kampfkunst-Stilen sind der Fokus auf starkes körperliches Training, die Entwicklung von Muskelkraft, Schlagkraft und Schnelligkeit, durch Gewichts- und Ausdauertraining. Ebenso dazu gehört die Abhärtung von Fingern, Händen, Armen, Schienbeinen und Füßen durch das Schlagen und Treten gegen diverse weiche und harte Trainingsgerätschaften, Reflextraining und Sparring. Man kann auch sagen, generell liegt der Fokus der äußeren Stile darauf, „schneller, höher, weiter“ zu kommen als der potentielle Gegner.
Beispiele für nicht-chinesische, äussere Stile sind das klassische Boxen, Wrestling, Judo, Jujitsu, Karate, Tae Kwon Do, Thaiboxing, Silat etc. Bei den traditionellen chinesischen Kampfkünsten zählt man die Shaolin-Stile, sowohl der nördlichen als auch der südlichen Traditionen zu den äußeren Stilen. Dazu zählen die auch die Stile Choi Li Fut, Mok Gar, Praying Mantis, White Crane, Monkey, Tiger und Hung Boxing etc.
Der Hauptfokus der inneren Kampfkünste liegt in den drei Regulierungen: der Regulierung der Atmung, des Körpers und des Geistes. Das Training konzentriert sich auf Muskelentspannung, Entspannung der Atmung, Aufdehnung der Gelenke, mentaler Entspannung, Sammlung und Kräftigung von Qi, ganzheitlicher Körperbewegung, Verlinkung von Intention und Bewegung und der Entwicklung einer präzise ausgerichteten Körperstruktur.
Die drei bekanntesten inneren Stile sind Taijiquan, Xingyiquan und Baguazhang. Diese Stile wurden stark vom Daoismus geprägt und ihre Ursprünge liegen in der Neigong Tradition der daoistischen Meditation. Das Neigong System gilt auch als die Basis für das ganzheitliche Gesundheitskonzept der traditionellen chinesischen Medizin. Gesunderhaltung und Heilung stehen hier im Vordergrund, die Entwicklung guter Kampffähigkeit wird als nützliches Nebenprodukt betrachtet.
In diesem Text wird der Begriff „Chinese Boxing“ benutzt, der sich von dem chinesischen Begriff chung- kuo chuan ableitet. Übersetzt bedeutet dies „chinesische Faust“, wobei das Wort „Faust“ auch als „Boxen“ übersetzt werden kann. In diesem Text wird der englische Terminus „Chinese Boxing“ beibehalten, da es sich um einem festen Begriff im Bereich der Kampfkünste handelt.
Grundgedanke des Chinese Boxing ist das Verständnis von energetischen Abläufen. Dies äussert sich zum einen im Wissen um die eigenen Energien und die Fähigkeit sie freizusetzen, zum anderen auch im Erkennen des Energiepotenzials des Opponenten. Im Zweikampf befähigt dieses Wissen zu einem wirkungsvolleren und effektiveren Einsatz der erlernten Techniken und zu einer gesteigerten Sensibilität für die Intentionen des Gegners.
Im Gegensatz zu Kraft und Schnelligkeit, die mit fortschreitendem Alter unweigerlich abnehmen, entwickelt sich das Verständnis von Energie mit wachsender Erfahrung. Viele der großen Meister innerer Kampfkünste sind im Alter von 60 oder 70 Jahren auf dem Höhepunkt ihrer Fähigkeiten und immer noch in der Lage, wesentlich jüngere und kräftigere Kämpfer zu kontrollieren.
Der Gründer des Chinese Boxing Institute International (CBII), Christopher G. Casey, war der Meinung, dass das Fundament des inneren Boxens auf einigen grundlegenden Prinzipien ruht. Casey hatte im Laufe seines Lebens die Möglichkeit mit einigen der besten Meister und Großmeister des chinesischen Boxens ihrer Generation zu trainieren. Er lernte u.a. Baguazhang und Xingyiquan von Meister Wang Shu- Chin und Meister Shen Muo- Hui. Meister Tao Ping- Siang unterrichtete ihn im Taijiquan und Meister Lo Man Kam in Yim Wing Chun.
Im Laufe seiner Studien kam Casey zu der Erkenntnis, dass die verschiedenen Stile des inneren Boxens wesentliche Gemeinsamkeiten haben, die für den energetischen Aspekt des Chinese Boxing maßgebend sind. Casey filterte diese Gemeinsamkeiten aus seinem Wissen um die verschiedenen Stile heraus, analysierte sie und formulierte schließlich zehn Kernprinzipien.
- Rooting (Verwurzeln)
Verwurzeln bedeutet die feste Verbindung des Körpers mit dem Boden. Es ist essenziell für ein stabiles Gleichgewicht und einen sicheren Stand. Der Zustand des verwurzelt-Seins wird auch in der Bewegung beibehalten. Die Aufmerksamkeit richtet sich darauf, durch Entspannung das Körpergewicht in Beine und Füße sinken zu lassen.
- Yielding (Nachgeben)
Der entspannte Zustand der Nachgiebigkeit ermöglicht die Kompensation eintreffender Energie. Kraft kann nur wirken wenn sie auf festen Widerstand trifft. Man vermeidet es einen festen Widerstand zu bieten und begegnet Härte mit entspanntem Nachgeben.
- Unitary (Ganzheitlichkeit)
Ganzheitliche Bewegung ermöglicht die Entfaltung von Energie und Schnelligkeit. Kraft entsteht durch das ganzheitliche Zusammenspiel von Muskulatur, Gelenkstellung und dem Einsatz des Körperzentrums.
- Body State (Körperstatus)
Entwicklung eines Körperstatus, in dem die Muskulatur bis auf die nötige Haltespannung weitgehend entspannt ist. Die Konzentration ist auf die größtmögliche Entspannung ausgerichtet. Dadurch wird die innere Körpermechanik flexibel gehalten. Schnelligkeit und physische Sensibilität werden in diesem Status gefördert.
- Six-Nine-Theory (Wandlungsfähigkeit)
Wandlungsfähigkeit ermöglicht es zu jedem Zeitpunkt eines Zweikampfes die Intention, Strategie und Richtung zu verändern, ohne die Eigensicherung zu gefährden. Es ist die Fähigkeit erlernte Techniken und Ansätze fließend und ansatzlos zu wechseln.
- Centerness (Zentrierung)
Zentrierung bedeutet die lotrechte Ausrichtung der Wirbelsäule, die Anpassung der Körpermechanik auf die eigene Zentrallinie und die Konzentration auf das Körperzentrum. Dieser Zustand wird in jeglicher Bewegung beibehalten.
- Forward Pressure (Vorwärtsdruck)
Konstanter Vorwärtsdruck auf das gegnerische Körperzentrum führt zu einem Kleben am Gegner und zur Reduzierung seines Schwungraums. Dadurch wird der Gegner in einem ständigen Ungleichgewicht gehalten, aus dem heraus keine koordinierten Bewegungen möglich sind.
- Line and Angle (Linien- und Winkelkontrolle)
Das Wissen um die korrekten Linien und Winkel in der eigenen Körpermechanik und in der Positionierung zum Gegenüber erhöht die Effizienz von Angriff- und Verteidigungstechniken. Hierbei geht es um die Kontrolle der eigenen Zentrallinie und der des Gegners.
- Projection ( Projektion )
Die Projektion von innerer Energie in einen Punkt außerhalb des Körpers. Projektion bedeutet u.A. die Konzentration auf die Entfaltung einer Technik in einem Punkt hinter ihrem Ziel zu richten. Ihre Energiewirkung setzt sich hinter dem Ziel fort und kann es somit durchdringen. Es bedeutet auch eine klare Vorstellung über den Verlauf der eigenen Energie innerhalb der angewendeten Technik zu haben.
- Mind Hit
Mind Hit ist der kontrollierte Angriff auf Geist und Konzentration des Gegners. Es ist das Erkennen und Kontrollieren der mentalen Abläufe eines Zweikampfs und dient als Taktik zu Störung des mentalen Fokus des Gegenübers. Der Mind Hit spielt in der Selbstverteidigung eine außerordentlich wichtige Rolle. Gleichzeitig bedeutet Mind Hit auch, das Mind und Intention des Boxers das Ziel schon erreicht und die Auseinandersetzung bereits siegreich beendet haben, bevor der eigentliche Kampf begonnen hat.
Diese zehn Kernprinzipien sind keine grundlegend neuen Entdeckungen Caseys, sondern werden schon seit Jahrhunderten innerhalb der einzelnen Stile und deren Familien weitergegeben. Casey war jedoch einer der ersten Nicht-Chinesen, der diese Prinzipien schriftlich dargelegt und zu einem theoretischen Konzept zusammengefügt hat. Seine Arbeit wurde offiziell von der „Koushu Federation of the Republic of China“ anerkannt und gewürdigt.